Tiere

 

 

Botschafter der Affen

Für den Verhaltensforscher Frans de Waal sind Gemeinsamkeiten zwischen Mensch und Schimpanse interessanter als die Unterschiede. Ein Besuch in Georgia.

Von Katja Ridderbusch

Socrates, genannt Socko, und Bjorn kennen sich seit Kindertagen. Früher haben sie miteinander gespielt, heute sind sie bittere Konkurrenten - um die Macht und um die Frauen. Socko ist die Nummer eins, der Alphamann. Er ist groß, lässig und gutherzig, und deshalb mögen ihn die Damen. Bjorn ist klein, schlau, hinterlistig und manchmal auch gewalttätig. Kein Wunder also, dass die Frauen ihn nicht besonders gut leiden können.

Socko und Bjorn sind Schimpansenmänner im Yerkes-Primatenzentrum in Lawrenceville im US-Bundesstaat Georgia, das etwa eine Stunde von der Metropole Atlanta versteckt in einem Wäldchen liegt - zwischen jenem seelenlosen amerikanischen Vorstadtland, das Suburbia heißt. 29 Schimpansen leben hier in der Feldstation, aufgeteilt in zwei Kolonien. Die Yerkes-Schimpansen kommen auch in dem jetzt veröffentlichten Buch "Der Affe in uns" vor. Geschrieben hat es der Leiter des Zentrums, der holländische Verhaltensforscher Frans de Waal, ein international renommierter Vertreter seiner Zunft.

Das Büro von Frans de Waal ist winzig und karg, ein Container auf einem Turm mit einem Glasfenster, das den Blick in das Affengehege öffnet. Immerhin habe der Raum eine Klimaanlage, sagt der Forscher, wischt sich mit einem weißen Taschentuch den Schweiß von der Stirn und sinkt auf einen Stuhl. Nein, an die feuchte Hitze des Südens könne er sich nicht gewöhnen, auch nicht nach 15 Jahren hier. De Waal, der mit seiner Frau Catherine und vier Katzen in Atlanta lebt, ist ein gelassener Herr mit grauem Haar, grauem Schnurrbart und ruhigen, prüfenden Augen.

Von seinem Beobachtungsturm schaut er auf eine Kolonie mit 13 Schimpansen. Er beobachtet, wie sie Intrigen schmieden und Zweckbündnisse bilden. "Darin sind sie dem Menschen sehr ähnlich", stellt de Waal fest. "Schimpansen sind sehr politische Wesen." Das Verhalten von männlichen Schimpansen erinnere ihn an das von Führungskräften in großen Unternehmen: In beiden Fällen kämpfen und konkurrieren sie untereinander - um Macht oder um Geld, doch am Ende müssen sie zusammenhalten, um ihr Territorium gegen Eindringlinge oder das Unternehmen vor der feindlichen Übernahme durch Wettbewerber zu verteidigen.

"Schimpansenmänner sind Machos", betont de Waal. Ihre Hierarchie bestimmen sie durch Kampf, der Stärkere und Schlauere gewinnt. Bei den Weibchen entscheidet eine Kombination aus Alter und Persönlichkeit, wer die Position der Alphafrau besetzt. Auch das Streitverhalten der Schimpansen sei dem des nah verwandten Menschen nicht unähnlich: "Schimpansenmänner streiten schnell und kämpfen laut, aber sie versöhnen sich auch schnell wieder." Weibchen dagegen streiten seltener, aber wenn, dann vergessen sie nicht und versöhnen sich nur selten.

Die Unterschiede zwischen Homo sapiens und Menschenaffen seien graduell, sagt de Waal, nicht grundsätzlich. Affen benutzen Werkzeuge, Menschen ebenfalls, aber sie können damit besser umgehen. Affen haben die Fähigkeit zum Rechnen, aber Menschen sind darin schneller und differenzierter. "Der Mensch ist einzigartig, aber nicht ganz so einzigartig, wie er denkt." Tatsächlich unterscheiden sich die DNA-Sequenz des Menschen und die des Schimpansen um nur 1,23 Prozent.

Schimpansen kennen Emotionen wie Aggression und Angst. Sie haben ein langes Gedächtnis, deshalb empfinden sie Trauer und Rache. Vor kurzem hat de Waals Forscherteam entdeckt, dass Schimpansen sozialem Druck nachgeben, einer Peergroup folgen - bislang war Konformismus eine Eigenschaft, die allein dem Menschen zugeschrieben wurde. Schimpansen kennen Zuneigung, aber keine romantische Liebe. "Das hat mit der Sozialstruktur zu tun, die einen wichtigen Unterschied zwischen Mensch und Menschenaffe ausmacht", erklärt de Waal. "Unsere engsten Verwandten, die Schimpansen und die Bonobos, wechseln ihre Partner. Die Frauen kümmern sich allein um den Nachwuchs. Der Mensch dagegen lebt in der Regel in der Kernfamilie mit Vater, Mutter, Kindern." Ein weiterer Unterschied ist die Sprache, die nur der Mensch hat. De Waal bezweifelt auch, dass Schimpansen moralische Wesen sind, dass sie Schuld und Scham empfinden können, "die komplexesten aller Emotionen". Er zögert. "Aber letztlich wissen wir es nicht. Nicht sicher."

Wenn Frans de Waal seine früheren Arbeitsstätten, die Zoos in Arnheim und in San Diego, besucht, dann begrüßen ihn die Tiere wie einen alten Bekannten. Ja, sagt er und schmunzelt, ein bisschen fühle er sich schon wie der Botschafter der Affen - beim breiten Publikum und bei seinen Kollegen in der Forschung, bei den Sozialwissenschaftlern, den Philosophen, den Psychologen. De Waal selbst versteht sich als Grenzgänger, ein Biologe, der an der Fakultät für Psychologie lehrt. In den Humanwissenschaften, sagt er, sei der Mensch das Maß allen Vergleichs. "Aber ich bin Biologe. Mein Blickwinkel ist ein anderer: Menschen oder Menschenaffen, wir sind alle Primaten. Für mich sind die Gemeinsamkeiten interessanter als die Unterschiede."

Diese Gemeinsamkeiten spüren vor allem die Kinder. "Kinder sind noch unverstellt. Sie nehmen die Affen ernst. Wenn sie kämpfen, sind sie besorgt, wenn sie spielen, freuen sie sich." Anders die Erwachsenen. Deren beschämtes, peinlich berührtes Befremden beim Anblick von Affen sei eine Art Selbstschutz, sagt de Waal. "Ihnen wurde ein Leben lang eingeredet, dass der Mensch über dem Affen steht - und später wollen sie nicht wahrhaben, wie ähnlich wir uns tatsächlich sind." Umgekehrt haben Schimpansen ein feines Gespür für Menschen. Fühlen sie Ablehnung, treiben sie gerne ihre derben Späße. So geschah es, dass Bjorn, der Hinterlistige, einmal auf einen Baum kletterte und von dort mit offensichtlicher Genugtuung auf eine Besuchergruppe herniederpinkelte. "Schimpansen haben Slapstick-Humor", sagt Frans de Waal. Sie wollen die Menschen zu Reaktionen provozieren.

Seine eigene Rolle für die Schimpansen in der Yerkes-Feldstation beschreibt de Waal als "jemanden, den sie kennen, mit dem sie vertraut sind". Ein akzeptierter Teil ihrer Peripherie, der letztlich ohne Konsequenzen für sie ist: "Schließlich bringe ich kein Futter. Ich bin einfach nur da." Ein Mitglied der Kolonie sei er nicht, das könnten Menschen nicht sein. "Wenn man Mitglied der Schimpansengruppe wäre, müsste man an den Kämpfen um die Hackordnung und am sexuellen Wettlauf teilnehmen", sagt de Waal und fügt hinzu, trocken: "Und das würde doch etwas kompliziert." Selbst Jane Goodall, die große alte Dame der Primatenforschung, die mit Schimpansen in der Wildnis lebte, tat dies nicht mit dem Ziel, Teil der Gruppe zu werden, sondern um die Tiere aus der Nähe beobachten zu können.

Obwohl Frans de Waal nicht Mitglied der Kolonie ist, betrachten die Schimpansen seinen Beobachtungsturm dennoch als Teil ihres Territoriums - und dulden dessen Bewohner als vertrauten Untermieter. "Wenn ich allein hier bin, ist das kein Problem. Auch nicht, wenn ich Besucher mitbringe. Aber wenn Fremde ohne mich hierherkommen, werden die Affen ärgerlich." Vor kurzem verlegten Handwerker in de Waals Büro neue Kabel. Nach zwei Stunden war die Glasscheibe braun von Schlamm, den die Schimpansen nach den Eindringlingen geworfen hatten.

Auch der kühle Wissenschaftler de Waal hat seine Favoriten unter seinen Studienobjekten. So hat er Socko in sein Herz geschlossen, den Alphamann. Und Georgia, eine junge Schimpansin. "Georgia ist eine sehr interessante Persönlichkeit. Sie ist klug, draufgängerisch, respektlos." Den Verhaltensforschern in der Yerkes-Station dient sie in zahlreichen Studien als Modell; mit ihr machen sie Versuche zum Lernverhalten von Menschenaffen: Zuerst übt die Schimpansin, bestimmte Werkzeuge zu bedienen, eine Schublade zu öffnen beispielsweise oder einen Futterapparat zu bedienen. Anschließend beobachten die Forscher, wie sie diesen Mechanismus den anderen Tieren zeigt. Dabei beweist Georgia ihre Autorität - und das, obwohl sie in der Hierarchie noch nicht weit oben steht. Auch ist Georgia eine proaktive Schimpansin: Fühlt sie sich zu einem Männchen hingezogen, egal wo dieser in der Rangordnung steht, ergreift sie die Initiative - und sorgt für Unmut in der gesamten Kolonie.

30 Jahre Affenforschung haben Frans de Waal geprägt - aber er ist Realist geblieben und hat sich eine Distanz zu den Tieren bewahrt, mit denen er so viel Zeit verbringt. Dass Mensch und Menschenaffe jemals Freunde werden können, hält er für unwahrscheinlich. "Wer Loyalität bei einem Tier sucht, der soll sich einen Hund anschaffen. Ein Schimpanse ist nicht loyal. Er wird sich gegen den Menschen wenden, sobald er eine Schwäche spürt." Und nach einer Pause fügt er hinzu, sehr sachlich klingt das und ein wenig traurig: "Auch in dieser Hinsicht sind sie uns Menschen sehr ähnlich."

Artikel erschienen am Sa, 2. September 2006

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